Aus meinem Nachwort:
Sabine
Deitmer wurde 1947 in Jena geboren. Die ersten Jahre lebte sie dort bei ihrer Großmutter,
danach ab 1950 in Düsseldorf bei ihrer Mutter. Erst spät stellte sich heraus, dass
ihr Vater ein russischer Offizier mit jüdischem Hintergrund gewesen war und Sabine
einen in Israel lebenden Halbbruder hatte.
Als
Kind interessierten sie die Lektüren in der Schule wenig, wohl aber die Fälle
von „Kalle Blomquist“, die im Radio übertragen wurden, und Enid Blytons „Fünf
Freunde“-Bücher. Mit 13 Jahren verschlang sie Jerry Cotton-Hefte, die ihr
lebenslanges Interesse an Kombinationsmöglichkeiten im Kriminalroman und
Spannungsentwicklung sowie an der Neubewertung und Wirkung von Trivialliteratur
weckten. Und natürlich saß sie vor dem Fernseher, wenn Francis Durbridges
Halstuchserie über den Bildschirm flimmerte.[1]
Bis zum Abitur blieb Sabine Deitmer in Düsseldorf. Dann studierte sie in Bonn und Konstanz Anglistik und Romanistik, schloss zunächst mit dem 1. und 2. Staatsexamen (Realschule) ab, stockte mit einer wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt am Gymnasium auf und arbeitete zunächst ab 1977 als Studienrätin in Berlin. Parallel beendete sie ihren Abschluss als Magister in Konstanz mit einer Arbeit zur Rezeption der Kriminalromane von Agatha Christie. Die Arbeit wurde später auszugsweise unter dem Titel: „Der Detektivroman und sein literarischer Wert - Versuch zur Neubewertung einer Gattung“[2] veröffentlicht. Schon in dieser Schrift charakterisierte sie die Romane von Agatha Christie als völlig unterbewertet und widersprach dem gängigen Vorurteil, es handele sich um sogenannte „Häkelkrimis“. Im Zentrum der Untersuchung stehen Fragen des Rezeptionsprozesses und der literarischen Wertung. Sie kommt zu folgendem Ergebnis:
„Die
Überbetonung der festen Elemente[3]
und der konservativen Stilmittel seitens der Kritiker des Detektivromans führt
dazu, den Detektivroman in die Sparte Trivialliteratur abzudrängen, ohne damit
seiner Besonderheit gerecht zu werden. Wenige Kritiker gehen auf den
grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Happy-End eines Liebesromans z.B. ein,
in dem die Erwartungen des Lesers vollständig eingelöst werden, und dem
Happy-End eines Detektivromans, wo dem Happy-End gemäß der
Darstellungsstrategie die getäuschten Erwartungen des Lesers vorausgehen.“[4]
Längere
Arbeitsaufenthalte führten Sabine Deitmer nach Frankreich, Großbritannien und
in die USA. Mit ihrer Tätigkeit als Lehrerin in Berlin hatte sie sich auf einen
Wunschjob in einem Goethe-Institut qualifizieren wollen. Als sich keine
Realisationsmöglichkeit abzeichnete, gab sie diese Pläne jedoch auf. Sie
heiratete und lebte zwei Jahre (1978-1980) in Bochum als Übersetzerin, ehe sie
1980 eine Stelle an der Volkshochschule Dortmund als beamtete Projektleiterin
für Weiterbildung antrat.
In
Dortmund lernte sie 1982 ihren Freund und späteren Mann Ulrich Moritz kennen,
mit dem sie bis zu ihrem Lebensende fast 40 Jahre zusammenblieb. Moritz war nicht
nur ihr Partner, sondern - nach ihren eigenen Worten - auch ihr
„Sparringpartner“, mit dem sie sich über ihre literarische Arbeit
auseinandersetzte. Mit der Figur des Beckmann schuf sie ein literarisches
„alter Ego“ von ihm.[5]
Bereits
seit 1979 suchte Sabine Deitmer im Ruhrgebiet Kontakt zu Frauen, die ebenfalls
Interesse am Schreiben hatten. Sie wurde Gründungsmitglied der Gruppe „Frauen
schreiben“, die bald eigene Projekte realisierte, so 1984 die Veröffentlichung
„Mitten ins Gesicht. Weiblicher Umgang mit Wut und Hass“. Die Frauen der Gruppe
tourten mit dem im Selbstverlag erschienenen Band: „Wir schliefen auf
Luftmatratzen bei alternativen Buchhändlern und Kneipenkollektiven, nur wenn
wir Glück hatten, gab es für jede ein ordentliches Bett. Dafür lernten wir im
Eiltempo, wie man einen Leseabend gestaltet, mit der Presse vor Ort umgeht und
mit den Veranstaltern. Mit unseren Texten zum Thema Aggression wurden wir nicht
selten heftig von Menschen im Publikum angegangen. Uns eilte der Ruf voraus,
wir seien militante Lesben.“[6]
Die
Anthologie wurde zur Initialzündung für weitere literarische Arbeiten. In ihr
finden sich bereits drei Stories, die in „Bye-bye, Bruno“ (1988), Sabine
Deitmers erster eigenständiger Veröffentlichung, Eingang fanden. Von 30
Verlagen hatte die Autorin für das Manuskript abschlägige Bescheide erhalten, als
zeitgleich sowohl von Ullstein als auch von Fischer Zusagen kamen. Die Kriminalgeschichten
erschienen in der Reihe „Frau in der Gesellschaft“ (Fischer) und haben bis
heute eine Auflagenstärke von weit mehr als einer Viertelmillionen erreicht.
„Bye-bye, Bruno“ war Sabine Deitmers Durchbruch als Autorin.
Sie
hatte ein neues Genre der Kriminalerzählung geschaffen. Im Zentrum ihrer
Geschichten standen ganz normale Frauen und ironisch überzeichnete, typisierte
Männer sowie Konflikte, die alle mit dem Tod der Männer endeten. Es ging
keinesfalls um die Aufklärung und Sanktionierung der Taten, sondern primär um die
Art „Wie Frauen morden“[7]
und die Gründe, die dazu führen. Ein Beispiel hierfür ist der in diesem Lesebuch
abgedruckte Text „Musik sprengt alle Grenzen“, in der eine berufstätige Frau,
die ihre Familie mit Kind managed und um das finanzielle Überleben kämpft, den
arbeitslosen, selbsterfahrungssüchtigen Ehemann per Meditationsmusik bei einer Autofahrt
ins Jenseits befördert.
Die
besondere Rolle, die die Gruppe „Frauen schreiben“ und die Frauenbewegung auf
ihrem Weg zur Schriftstellerin spielten, beschrieb Sabine Deitmer folgendermaßen:
„Ich hätte mich vielleicht nie getraut zu schreiben, wenn ich nicht in den siebziger
Jahren innerhalb der Frauenbewegung wichtige Erfahrungen gemacht hätte. Die
Erfahrung, daß mir nicht der Himmel auf den Kopf fällt, wenn ich in einer
öffentlichen Versammlung rede, daß das, was ich denke, wert ist, gesagt zu
werden, daß alles besser ist, als stumm sein und schweigen. Daß Frauen nicht
erwarten können, daß Männer ihre Interessen vertreten, daß ich nicht erwarten
kann, freundlich gefördert zu werden, daß ich mich selbst freundlich fördern
muß.“[8]
1990
erschien ihr zweiter Band mit Mordgeschichten: „Auch brave Mädchen tun´s“. Die
Stories wurden länger, waren psychologisch und motivisch fein entwickelt. Ein
gutes Beispiel dieser Arbeitsperiode ist „Schwimmen lernen“ (siehe Textteil).
Der
Erfolg ermutigte Sabine Deitmer, sich von ihrer Tätigkeit in der Weiterbildung zehn
Jahre beurlauben zu lassen und sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1990 war sie
bereits so bekannt, dass man sie in die Jury des renommierten Glauser-Preises
einlud. Sie machte sich dort stark für eine Vergabe der Auszeichnung an Heinz
Werner Höber für seinen ersten Roman „Nun komm ich als Richter“ (Reinbek,
Rowohlt 1989). Höber, so stellte sich heraus, war zuvor einer der wichtigsten
Verfasser der Jerry-Cotton-Hefte gewesen[9],
die Sabine Deitmer in ihrer Jugend so gern gelesen hatte, dort namentlich allerdings
nicht in Erscheinung getreten war. Die Entscheidung zu seinen Gunsten wurde
unter Krimiautorinnen und -autoren kritisch diskutiert. Die Debatte, ob es
überhaupt eine sinnvolle Trennung zwischen „U“ (Unterhaltung) und „E“ (ernster
Literatur) gebe, begleitete Sabine Deitmer seit ihrem Studium, ja wurde von ihr
immer wieder angestoßen.
1993
veröffentlichte Deitmer ihren ersten Roman „Kalte Küsse“ mit der
unkonventionellen, emanzipierten, lustvollen, aber bindungsscheuen Ermittlerin
Beate Stein. Die Autorin berichtete später, dass ein Spaziergang über den
Friedhof und die Entdeckung einer Grabplatte ihr den Namen der Ermittlerin
beschert hätten: „Beate, die Glückliche, und Stein, als Gegensatz konstruiert,
das Unverrückbare“.[10]
Die Kommissarin stellt sich dem Publikum ausführlich im zweiten Roman
„Dominante Damen“ (1994) vor (siehe Textteil). Aber auch in „Kalte Küsse“
beschreibt sie sich selbst anhand ihres Spiegelbilds und Dienstausweises: „Das
Gesicht im Spiegel war umwerfend. Straffe Haut, keine Ringe unter den Augen.
Mit fünf Fingern fuhr ich durch die Haarstoppeln. Es geht nichts über ein paar
Stunden Schlaf und eine Auffrischung der Hormone. (…) Der Dienstausweis, den
ich am Zahnpastaglas geparkt hatte, zeigte eine Dame, die mir häufiger im
Spiegel begegnet. Müde, abgespannt, Schatten unter den Augen. Ich griff die
Plastikkarte. Name: Beate Stein, Größe: 178cm, Alter: 32, Haarfarbe: Blond, Augenfarbe:
Grün, besondere Kennzeichen: Narbe am linken Schulterblatt.“
In
der Reihe der Stein-Romane tragen alle Bände eingängige Titel, bestehend aus
zwei alliterierenden Begriffen. Sie beginnen ebenfalls alle mit einem Prolog, der
sich nicht sofort erschließt, aber mit seinen Detailbeobachtungen eine
spezifische Atmosphäre schafft und Neugier weckt. Darüber hinaus wird in allen
Romanen auf zwei Ebenen erzählt. Dieses Verfahren erlaubt es der Autorin
stärker auf die Motive des Geschehens und die Innensicht der Beteiligten
einzugehen. Das Collage-Verfahren stellt allerdings an den Rezeptionsprozess
höhere Anforderungen.[11]
Zu den weiteren Konstanten der fünf Stein-Romane gehört, was das Personal
betrifft, der bereits oben erwähnte Freund und Liebhaber Beckmann, der sich
aufs Kochen versteht, die blinde Freundin Anna, ehemals im Polizeidienst und
heute als Künstlerin tätig. Bei ihr findet Kommissarin Stein Ruhe, Hilfe und
Lebensweisheit. Schließlich gibt es Weber, einen guten Kollegen, mit dem Beate
Stein ein Team bildet, die Fälle löst und sich in der Hierarchie des
Polizeipräsidiums gegen die unsympathischen Vorgesetzten und missliebigen Arbeitsverhältnisse
wehrt.
In
den Leseproben finden sich drei Textpassagen aus dem Erstlingsroman „Kalte
Küsse“. Der erste gibt den Leichenfund und die Ermittlungsarbeit wieder. Der
anschließende zweite (kursiv gesetzt) beschreibt eine Szene mit einer jungen
Frau mit Kind an einem Bahnhof. Sie kippt ihr Bargeld auf die Schaltertheke und
möchte ein Einfachticket nach irgendwohin für diesen Betrag buchen. Die Frau,
so denkt die Leserin oder der Leser, muss einen Grund für diese Flucht haben. Aber
die Autorin führt natürlich auf die falsche Fährte. Die dritte Textstelle
spricht das Thema des Romans, nämlich Inzest, und Fragen des Rechts und der
Gerechtigkeit an.
„La
Deitmer“ - so Krimiautor und Kollege Reinhard Jahn - gehörte bei Erscheinen
ihres ersten Romans längst wie Doris Gehrcke und Ingrid Noll zu den ersten und
bekanntesten Autorinnen der Gattung in Deutschland und trat mit ihren Texten
explizit für Frauen ein. Den Begriff „Frauenkrimi“ mochte die Autorin allerdings
nicht, schien er sie doch zu sehr an Schubladendenken und Quote zu erinnern.
Das gleiche galt übrigens für den Begriff „Regionalkrimi“. Alle Romane der
Autorin spielen, wenn man sich nur ein bisschen auskennt, eindeutig in
Dortmund. Auch Straßennamen sind zu identifizieren. Der Name der Stadt fällt
aber an keiner Stelle. Sie wollte keine Lokalkrimis, keinen Lokalbonus haben, sondern
einfach gute Kriminalromane schreiben.
In
allen „Stein“-Romanen beschäftigte sich Sabine Deitmer mit Themen, die sie betroffen
und wütend machten: Kindsmissbrauch („Kalte Küsse“), Umgang mit Prostituierten
und Dominas („Dominante Damen“), Bedrohung von Frauen im öffentlichen Nachtleben
(„NeonNächte“) , Schönheitschirugie („Scharfe Stiche“) und schließlich Alter
und Krankheit („Perfekte Pläne“).
Ein
weiteres Merkmal aller Romane fällt ins Auge: Sie wollen informieren über das,
was man üblicherweise nicht weiß oder kaum für möglich hält. Deitmer liebte die
Recherche und nahm sie bei ihrer Arbeit sehr ernst. Für „Kalte Küsse“ und
„Dominante Damen“ arbeitete sie mit der „Dortmunder Mitternachtsmission“ eng
zusammen. Sie stand in Kontakt zu einer Prostituierten, die ein Domina-Studio
betrieb, der sie einen Tag bei ihrer Arbeit zusehen durfte. Für „NeonNächte“
fuhr sie mit einer Busfahrerin durch die Nacht und ließ sich die Tunnel der
U-Bahn genauer zeigen. Für „Scharfe Stiche“ war sie Gast bei einer
achtstündigen OP, bei der das Gesicht einer Frau komplett geliftet wurde.
Dementsprechend
sind die Romane gesättigt mit Informationen. In „Dominante Damen“ erfährt man
in einem Gespräch der Ermittlerin in der Beratungsstelle für Prostituierte
nicht nur Erstaunliches über sexuelle Praktiken und Lustgewinn von Männern,
sondern auch, dass jede Frau, die „anschaffen geht“, sofort aus der gesetzlichen
Krankenkasse geworfen wird (siehe Textteil vorn).
Für
„Dominante Damen“ erhielt Sabine Deitmer den deutschen Krimipreis 1995.
Schon
ein Jahr später erschien zum Thema „Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum“
der Folgeroman „NeonNächte“. Abweichend von allen anderen Geschichten und
Romanen sterben in ihm drei Frauen. Im Textausschnitt dieses Lesebuchs begegnen
wir der Ermittlerin zunächst bei Einkäufen mit Beckmann, ihrem Partner (s.o.). Als
Beate Stein jedoch zu einem Mord gerufen wird, hinterlässt sie dem Freund, - in
der Zeit gab es ja noch keine Handies -, auf originelle Art eine Botschaft. Die
Szene zeigt, mit wie viel Ironie die Autorin zu arbeiten vermochte. Das
folgende Kapitel in Kursivschrift führt die Leser auf die zweite Erzählebene
und die (falsche) Spur eines Obdachlosen, der in den unterirdischen Tunneln
sein Zuhause gefunden hat. Die Anschlussszene zeigt die Ermittler bei einer
Leiche, die auf den Gleisen aufgefunden wurde.
Mit
„Dominante Damen“(1994) und „Neonnächte“ (1995) war Sabine Deitmer in der
Öffentlichkeit zu größter Anerkennung gekommen, weil sie sich an Themen wagte,
die sich kaum jemand anzufassen traute. „Kalte Küsse“ wurde 1995 für den
Rundfunk bearbeitet, „Dominante Damen“ 1998.
In
der Regie von Carl Schenkel wurde „Kalte Küsse“ 1997 für RTL verfilmt
(Erstausstrahlung am 8. 5. 1997.) Die Differenzen zwischen Roman und
Filmergebnis waren für Sabine Deitmer teilweise schwer erträglich. Nicht eine
Ermittlerin mit streichholzkurzen Haaren trat hier vor die Kamera, sondern eine
Marie Bäumer mit Strapsen. „Da hilft nur loslassen“, sagte Deitmer in Interviews
später.[12]
2000
kam auch „NeonNächte“ zur Verfilmung („Neonnächte - Der U-Bahn-Schlitzer“, RTL-Fernsehfilm,
Drehbuch: Thomas Reuter und Peter Ily Huemer, Regie: Peter Ily Huemer,
Erstausstrahlung 5.1.2000)
Mittelweile
waren Veröffentlichungen von Sabine Deitmer auch in andere Sprachen übersetzt
worden: 1995 erschienen „Kalte Küsse“ und „Dominante Damen“ in Dänisch. „Addio
maschio“ lautete 1999 der italienische Titel von „Bye-bye, Bruno“. Ein Jahr
später konnten auch Leserinnen und Leser in Schweden „Kalte Küsse“ in ihrer
Muttersprache lesen.
Nach
den drei Erfolgsromanen, veröffentlichte Sabine Deitmer zunächst noch einmal
einen Band mit Erzählungen. „Die schönsten Männer der Stadt. Balzgeschichten,
Frankfurt a.M. (Fischer) 1997. Das Thema war zuvor bereits in zwei Anthologien
der Gruppe „Frauen schreiben“ Gegenstand gewesen, ganz früh in „Venus wildert.
Wenn Frauen lieben“ (1985) und später in „Die Nacht der schöne Frauen“ (1997).
Aus beiden Textsammlungen konnte Sabine Deitmer Stories für ihr neues Buch
übernehmen, das ausnahmsweise nicht ausschließlich Kriminalgeschichten
enthielt.
Als
Beispiel ist diesem Lesebuch das kleine Prosastück „Erstaunliche Werte“
eingefügt.
Vor
der Jahrtausendwende kamen auf Sabine Deitmer Veränderungen zu. Sie wollte
ihren Status als Beamtin nicht verlieren und kehrte nach zehn Jahren in ihre
Arbeit an der Volkshochschule Dortmund zurück. Eine weitere Beurlaubung war
nicht mehr möglich. Parallel schrieb sie zwei weitere Romane, die auf ihren
Wunsch hin, nun als Hardcover im Krüger-Verlag erschienen, der seit 1976 Teil
des Fischer-Verlags war.
Das
Arbeitstempo, das Sabine Deitmer zuvor vorgelegt hatte, war nicht mehr zu
halten. Erst neun Jahre nach ihrem letzten Roman erschien 2004 „Scharfe
Schnitte“, ein Buch, in dem sie sich mit dem Thema Schönheitschirurgie
befasste. Im Lesebuchteil ist eine Szene eingefügt, die Hintergründe und
skandalöse Informationen zu dieser Branche enthält (siehe vorn). Für diesen
Roman erhielt Sabine Deitmer 2005 den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden „Agathe“.
In
ihrem letzten Roman „Perfekte Pläne“ (2007) wandte sie sich dem Thema Alter und
Krankheit zu. Ein Mann, dessen Frau bereits verstorben ist, erleidet einen
Schlaganfall. Als sich seine Kinder nicht um ihn kümmern, kämpft er sich
trotzdem ins Leben zurück: Einerseits helfen ihm Briefe, die der einsame Mann
an seine tote Frau schreibt. Darin lässt er sein Leben Revue passieren, gesteht
Schwächen und Fehler ein und hofft, noch einmal neu anfangen zu können. Andererseits
sucht er sich eine „Wahlfamilie“, da seine eigenen Kinder keinerlei Interesse für
ihn zeigen.
Im
Lesebuchteil findet sich ein Brief von Werner Krieger - so der Name des Mannes
- an seine Frau Edith mit dem
Entschluss, mit 73 Jahren ein neues Leben zu beginnen.
In
der anschließenden Szene, in der Ermittlerin Stein ihre blinde Freundin Anna
besucht, wird die Kernbotschaft des Romans herausgearbeitet. „…alles Leben ist
Verzeihen. Ohne Verzeihen funktioniert das Leben nicht.“ An seinem fehlenden
Verzeihen und auch am fehlenden Verzeihen seiner Kinder geht Werner Krieger am
Ende zugrunde, ja provoziert seinen eigenen Mord.
In
„Perfekte Pläne“ tritt Beate Stein, die Ermittlerin der fünf Romane, ab. Damit
beendete auch Sabine Deitmer im Wesentlichen ihr Schreiben. Es folgten nur noch
wenige Kurzgeschichten, die letzte 2012. 2007, das Erscheinungsjahr des letzten
Romans, ist zugleich das Jahr, in dem Sabine Deitmer sich von der Arbeit in der
Volkshochschule verabschiedete und in Ruhestand ging.
Erschienen
waren von ihr neben zehn selbständigen Büchern sehr viele Kriminalgeschichten
(siehe Originalbeiträge in Anthologien), die in der Folge auch an anderen Orten
veröffentlicht wurden. Sie hatte mehr als 400 Lesungen gehalten, manchmal vor
Publikum, das die ironisch überzeichneten Männertypen ihrer Geschichten nicht
immer amüsant fand. Sie hatte die Morde der Frauen manchmal verteidigen müssen.
Sie hatte auf zugigen Bahnsteigen gestanden und das Leben als reisende Autorin
als sehr beschwerlich empfunden. Jetzt war sie froh, nicht mehr auf Lesereise
gehen zu müssen.
Deitmer
blieb aber in der Krimi-Szene gut vernetzt, besonders in den Zusammenschlüssen „Syndikat“
und „Mörderische Schwestern“ und unterstützte in den Folgejahren besonders
junge Autorinnen. Der Fischer-Verlag legte ihre Werke noch einmal neu auf, so
dass diese nach wie vor lieferbar sind.
2008
erhielt die Autorin in Wien den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk
von der Autorengruppe „Syndikat“.
Ansonsten
belegte sie Kurse in Bauchtanz, widmete sich dem Klavierspielen - ohne
jeglichen Anspruch auf Perfektion - und malte. Sie räumte ihr Arbeitszimmer
kurzerhand für eine junge Frau, die aus Kiew nach Dortmund gekommen war. Diese
junge Frau wurde in den folgenden Jahren quasi Teil der Familie.
Deitmer
änderte ihren Lebensstil, ging jeden Tag - der Gesundheit zuliebe - ausreichend
viele Schritte, indem sie von ihrem Wohnhaus eine Runde Richtung Dortmunder Pferderennbahn
und Hauptfriedhof drehte.
Nach
einer schönen Reise an die Côte d’ Azur im Herbst 2019, eine Erinnerungtour an
eine Fahrt, die Sabine Deitmer und Ulrich Moritz in jungen Jahren mit dem
Fahrrad unternommen hatten, und einem glücklichen Weihnachtsfest, setzten bei
Sabine Deitmer am 6. Januar 2020 völlig unerwartet Hirnblutungen ein. Sie starb
am 11. Januar. Ihren Angehörigen hatte sie aufgetragen, ein Glas Champagner auf
sie zu trinken, ein Wunsch, der ihr erfüllt wurde.
Die Trauerfeier fand
unter großer Anteilnahme auf dem Hauptfriedhof in Dortmund - nahe ihrer
alltäglichen Spazierroute - statt. Es zeigte sich, wie sehr die kommunikative Autorin
mit ihrer zugewandten, hilfsbereiten und unkonventionellen Art den Menschen am
Herzen gelegen hatte und noch lag. Auf der Trauerkarte war der Hinweis zu
lesen: „An Stelle freundlich zugedachter Blumengrüße ist eine Spende für die
Dortmunder Mitternachtsmission e. V. (…) in ihrem Sinne“.
[1] Die Lust an der Leiche. Bekenntnisse
einer Triebtäterin, in: „Daß einfach sich diktierte Zeilen legen“. Autoren
schreiben über ihr Genre. Köln-Düsseldorfer Poetiklesungen, Band I, hrsg. von
Liane Dirks, Dülmen (tende) 1995, S. 163-192.
Besondere Kennzeichen: Weiblich. Sabine Deitmer
– Unterwegs mit Kommissarin Beate Stein. In: Kreuzverhöre. Zehn Krimiautoren
sagen aus, hrsg. von Jürgen Alberts und Frank Göhre, Hildesheim (Gerstenberg)
1999.
Wurzeln schlagen, in: Hier ziehe ich die Schuhe aus: Geschichten zum 60. Geburtstag von Nordrhein-Westfalen, hrsg. von Amir Shaheen, Weilerswist (Ralf Liebe Verlag) 2006, S. 115-126.
[2]
Der
Detektivroman und sein literarischer Wert - Versuch zur Neubewertung einer
Gattung, in: anglistik & englischunterricht. Trivialliteratur 2, 1977.
[3] Gemeint sind Erzählelemente.
[4] S.o., S. 40-41.
[5] So heißt es in der Widmung zu NeonNächte 1995: „Das Buch widme ich Ingeborg, die Straßenbahnen Wolfgang, und den Porsche widme ich Moritz, meinem Beckmann.“
[6] Sabine Deitmer, Mitten ins Gesicht. 1978-1998: 20 Jahre „Frauen schreiben“, in: Heimat Dortmund. Stadtgeschichte in Bildern und Berichten. Literatur in Dortmund mit der Dortmunder Gruppe 61 und danach, Zeitschrift des Historischen Vereins für Dortmund, 2/2011, S. 37.
[7] So lautet der Untertitel von „Bye-bye, Bruno“.
[8] Die Lust an der Leiche, in: „Daß einfach sich diktierte Zeilen legen“. Autoren schreiben über ihr Genre. Köln-Düsseldorfer Poetikvorlesungen, hrsg. von Liane Dirks, Dülmen-Hiddingsel 1995, S. 176.
[9] Er soll circa 250 Jerry-Cotton-Hefte verfasst haben.
[10] Kreuzverhöre, hrsg, von Jürgen Alberts und Frank Göhre, Hildesheim, 1999, S. 199.
[11] Das Verfahren erschwert teilweise die Auswahl und auch das Verständnis der Textauszüge in diesem Lesebuch.
[12] Sabine Deitmer: Da hilft nur loslassen, in: Ariadne Forum, Der Frauenkrimi-Almanach 1997/98, S. 144ff.