Dienstag, 7. Juni 2022

Ein Lesebuch der "Grande Dame" des Kriminalromans, Sabine Deitmer, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Monika Littau

Druckfrisch im April 2022: das Lesebuch Sabine Deitmer in der Reihe "Nylands kleine westfälische Bibliothek", hrsg. von der Nyland-Stiftung und der Literaturkommission für Westfalen.

Aus meinem Nachwort: 

Sabine Deitmer wurde 1947 in Jena geboren. Die ersten Jahre lebte sie dort bei ihrer Großmutter, danach ab 1950 in Düsseldorf bei ihrer Mutter. Erst spät stellte sich heraus, dass ihr Vater ein russischer Offizier mit jüdischem Hintergrund gewesen war und Sabine einen in Israel lebenden Halbbruder hatte.

 

Als Kind interessierten sie die Lektüren in der Schule wenig, wohl aber die Fälle von „Kalle Blomquist“, die im Radio übertragen wurden, und Enid Blytons „Fünf Freunde“-Bücher. Mit 13 Jahren verschlang sie Jerry Cotton-Hefte, die ihr lebenslanges Interesse an Kombinationsmöglichkeiten im Kriminalroman und Spannungsentwicklung sowie an der Neubewertung und Wirkung von Trivialliteratur weckten. Und natürlich saß sie vor dem Fernseher, wenn Francis Durbridges Halstuchserie über den Bildschirm flimmerte.[1]  

 

Bis zum Abitur blieb Sabine Deitmer in Düsseldorf. Dann studierte sie in Bonn und Konstanz Anglistik und Romanistik, schloss zunächst mit dem 1. und 2. Staatsexamen (Realschule) ab, stockte mit einer wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt am Gymnasium auf und arbeitete zunächst ab 1977 als Studienrätin in Berlin. Parallel beendete sie ihren Abschluss als Magister in Konstanz mit einer Arbeit zur Rezeption der Kriminalromane von Agatha Christie. Die Arbeit wurde später auszugsweise unter dem Titel: „Der Detektivroman und sein literarischer Wert - Versuch zur Neubewertung einer Gattung“[2] veröffentlicht. Schon in dieser Schrift charakterisierte sie die Romane von Agatha Christie als völlig unterbewertet und widersprach dem gängigen Vorurteil, es handele sich um sogenannte „Häkelkrimis“. Im Zentrum der Untersuchung stehen Fragen des Rezeptionsprozesses und der literarischen Wertung. Sie kommt zu folgendem Ergebnis:

„Die Überbetonung der festen Elemente[3] und der konservativen Stilmittel seitens der Kritiker des Detektivromans führt dazu, den Detektivroman in die Sparte Trivialliteratur abzudrängen, ohne damit seiner Besonderheit gerecht zu werden. Wenige Kritiker gehen auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Happy-End eines Liebesromans z.B. ein, in dem die Erwartungen des Lesers vollständig eingelöst werden, und dem Happy-End eines Detektivromans, wo dem Happy-End gemäß der Darstellungsstrategie die getäuschten Erwartungen des Lesers vorausgehen.“[4]

 

Längere Arbeitsaufenthalte führten Sabine Deitmer nach Frankreich, Großbritannien und in die USA. Mit ihrer Tätigkeit als Lehrerin in Berlin hatte sie sich auf einen Wunschjob in einem Goethe-Institut qualifizieren wollen. Als sich keine Realisationsmöglichkeit abzeichnete, gab sie diese Pläne jedoch auf. Sie heiratete und lebte zwei Jahre (1978-1980) in Bochum als Übersetzerin, ehe sie 1980 eine Stelle an der Volkshochschule Dortmund als beamtete Projektleiterin für Weiterbildung antrat.

 

In Dortmund lernte sie 1982 ihren Freund und späteren Mann Ulrich Moritz kennen, mit dem sie bis zu ihrem Lebensende fast 40 Jahre zusammenblieb. Moritz war nicht nur ihr Partner, sondern - nach ihren eigenen Worten - auch ihr „Sparringpartner“, mit dem sie sich über ihre literarische Arbeit auseinandersetzte. Mit der Figur des Beckmann schuf sie ein literarisches „alter Ego“ von ihm.[5]

 

Bereits seit 1979 suchte Sabine Deitmer im Ruhrgebiet Kontakt zu Frauen, die ebenfalls Interesse am Schreiben hatten. Sie wurde Gründungsmitglied der Gruppe „Frauen schreiben“, die bald eigene Projekte realisierte, so 1984 die Veröffentlichung „Mitten ins Gesicht. Weiblicher Umgang mit Wut und Hass“. Die Frauen der Gruppe tourten mit dem im Selbstverlag erschienenen Band: „Wir schliefen auf Luftmatratzen bei alternativen Buchhändlern und Kneipenkollektiven, nur wenn wir Glück hatten, gab es für jede ein ordentliches Bett. Dafür lernten wir im Eiltempo, wie man einen Leseabend gestaltet, mit der Presse vor Ort umgeht und mit den Veranstaltern. Mit unseren Texten zum Thema Aggression wurden wir nicht selten heftig von Menschen im Publikum angegangen. Uns eilte der Ruf voraus, wir seien militante Lesben.“[6]

 

Die Anthologie wurde zur Initialzündung für weitere literarische Arbeiten. In ihr finden sich bereits drei Stories, die in „Bye-bye, Bruno“ (1988), Sabine Deitmers erster eigenständiger Veröffentlichung, Eingang fanden. Von 30 Verlagen hatte die Autorin für das Manuskript abschlägige Bescheide erhalten, als zeitgleich sowohl von Ullstein als auch von Fischer Zusagen kamen. Die Kriminalgeschichten erschienen in der Reihe „Frau in der Gesellschaft“ (Fischer) und haben bis heute eine Auflagenstärke von weit mehr als einer Viertelmillionen erreicht. „Bye-bye, Bruno“ war Sabine Deitmers Durchbruch als Autorin.  

 

Sie hatte ein neues Genre der Kriminalerzählung geschaffen. Im Zentrum ihrer Geschichten standen ganz normale Frauen und ironisch überzeichnete, typisierte Männer sowie Konflikte, die alle mit dem Tod der Männer endeten. Es ging keinesfalls um die Aufklärung und Sanktionierung der Taten, sondern primär um die Art „Wie Frauen morden“[7] und die Gründe, die dazu führen. Ein Beispiel hierfür ist der in diesem Lesebuch abgedruckte Text „Musik sprengt alle Grenzen“, in der eine berufstätige Frau, die ihre Familie mit Kind managed und um das finanzielle Überleben kämpft, den arbeitslosen, selbsterfahrungssüchtigen Ehemann per Meditationsmusik bei einer Autofahrt ins Jenseits befördert.

 

Die besondere Rolle, die die Gruppe „Frauen schreiben“ und die Frauenbewegung auf ihrem Weg zur Schriftstellerin spielten, beschrieb Sabine Deitmer folgendermaßen: „Ich hätte mich vielleicht nie getraut zu schreiben, wenn ich nicht in den siebziger Jahren innerhalb der Frauenbewegung wichtige Erfahrungen gemacht hätte. Die Erfahrung, daß mir nicht der Himmel auf den Kopf fällt, wenn ich in einer öffentlichen Versammlung rede, daß das, was ich denke, wert ist, gesagt zu werden, daß alles besser ist, als stumm sein und schweigen. Daß Frauen nicht erwarten können, daß Männer ihre Interessen vertreten, daß ich nicht erwarten kann, freundlich gefördert zu werden, daß ich mich selbst freundlich fördern muß.“[8]

 

1990 erschien ihr zweiter Band mit Mordgeschichten: „Auch brave Mädchen tun´s“. Die Stories wurden länger, waren psychologisch und motivisch fein entwickelt. Ein gutes Beispiel dieser Arbeitsperiode ist „Schwimmen lernen“ (siehe Textteil).

 

Der Erfolg ermutigte Sabine Deitmer, sich von ihrer Tätigkeit in der Weiterbildung zehn Jahre beurlauben zu lassen und sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1990 war sie bereits so bekannt, dass man sie in die Jury des renommierten Glauser-Preises einlud. Sie machte sich dort stark für eine Vergabe der Auszeichnung an Heinz Werner Höber für seinen ersten Roman „Nun komm ich als Richter“ (Reinbek, Rowohlt 1989). Höber, so stellte sich heraus, war zuvor einer der wichtigsten Verfasser der Jerry-Cotton-Hefte gewesen[9], die Sabine Deitmer in ihrer Jugend so gern gelesen hatte, dort namentlich allerdings nicht in Erscheinung getreten war. Die Entscheidung zu seinen Gunsten wurde unter Krimiautorinnen und -autoren kritisch diskutiert. Die Debatte, ob es überhaupt eine sinnvolle Trennung zwischen „U“ (Unterhaltung) und „E“ (ernster Literatur) gebe, begleitete Sabine Deitmer seit ihrem Studium, ja wurde von ihr immer wieder angestoßen.

 

1993 veröffentlichte Deitmer ihren ersten Roman „Kalte Küsse“ mit der unkonventionellen, emanzipierten, lustvollen, aber bindungsscheuen Ermittlerin Beate Stein. Die Autorin berichtete später, dass ein Spaziergang über den Friedhof und die Entdeckung einer Grabplatte ihr den Namen der Ermittlerin beschert hätten: „Beate, die Glückliche, und Stein, als Gegensatz konstruiert, das Unverrückbare“.[10] Die Kommissarin stellt sich dem Publikum ausführlich im zweiten Roman „Dominante Damen“ (1994) vor (siehe Textteil). Aber auch in „Kalte Küsse“ beschreibt sie sich selbst anhand ihres Spiegelbilds und Dienstausweises: „Das Gesicht im Spiegel war umwerfend. Straffe Haut, keine Ringe unter den Augen. Mit fünf Fingern fuhr ich durch die Haarstoppeln. Es geht nichts über ein paar Stunden Schlaf und eine Auffrischung der Hormone. (…) Der Dienstausweis, den ich am Zahnpastaglas geparkt hatte, zeigte eine Dame, die mir häufiger im Spiegel begegnet. Müde, abgespannt, Schatten unter den Augen. Ich griff die Plastikkarte. Name: Beate Stein, Größe: 178cm, Alter: 32, Haarfarbe: Blond, Augenfarbe: Grün, besondere Kennzeichen: Narbe am linken Schulterblatt.“

 

In der Reihe der Stein-Romane tragen alle Bände eingängige Titel, bestehend aus zwei alliterierenden Begriffen. Sie beginnen ebenfalls alle mit einem Prolog, der sich nicht sofort erschließt, aber mit seinen Detailbeobachtungen eine spezifische Atmosphäre schafft und Neugier weckt. Darüber hinaus wird in allen Romanen auf zwei Ebenen erzählt. Dieses Verfahren erlaubt es der Autorin stärker auf die Motive des Geschehens und die Innensicht der Beteiligten einzugehen. Das Collage-Verfahren stellt allerdings an den Rezeptionsprozess höhere Anforderungen.[11] Zu den weiteren Konstanten der fünf Stein-Romane gehört, was das Personal betrifft, der bereits oben erwähnte Freund und Liebhaber Beckmann, der sich aufs Kochen versteht, die blinde Freundin Anna, ehemals im Polizeidienst und heute als Künstlerin tätig. Bei ihr findet Kommissarin Stein Ruhe, Hilfe und Lebensweisheit. Schließlich gibt es Weber, einen guten Kollegen, mit dem Beate Stein ein Team bildet, die Fälle löst und sich in der Hierarchie des Polizeipräsidiums gegen die unsympathischen Vorgesetzten und missliebigen Arbeitsverhältnisse wehrt.

 

In den Leseproben finden sich drei Textpassagen aus dem Erstlingsroman „Kalte Küsse“. Der erste gibt den Leichenfund und die Ermittlungsarbeit wieder. Der anschließende zweite (kursiv gesetzt) beschreibt eine Szene mit einer jungen Frau mit Kind an einem Bahnhof. Sie kippt ihr Bargeld auf die Schaltertheke und möchte ein Einfachticket nach irgendwohin für diesen Betrag buchen. Die Frau, so denkt die Leserin oder der Leser, muss einen Grund für diese Flucht haben. Aber die Autorin führt natürlich auf die falsche Fährte. Die dritte Textstelle spricht das Thema des Romans, nämlich Inzest, und Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit an.

 

„La Deitmer“ - so Krimiautor und Kollege Reinhard Jahn - gehörte bei Erscheinen ihres ersten Romans längst wie Doris Gehrcke und Ingrid Noll zu den ersten und bekanntesten Autorinnen der Gattung in Deutschland und trat mit ihren Texten explizit für Frauen ein. Den Begriff „Frauenkrimi“ mochte die Autorin allerdings nicht, schien er sie doch zu sehr an Schubladendenken und Quote zu erinnern. Das gleiche galt übrigens für den Begriff „Regionalkrimi“. Alle Romane der Autorin spielen, wenn man sich nur ein bisschen auskennt, eindeutig in Dortmund. Auch Straßennamen sind zu identifizieren. Der Name der Stadt fällt aber an keiner Stelle. Sie wollte keine Lokalkrimis, keinen Lokalbonus haben, sondern einfach gute Kriminalromane schreiben.

 

In allen „Stein“-Romanen beschäftigte sich Sabine Deitmer mit Themen, die sie betroffen und wütend machten: Kindsmissbrauch („Kalte Küsse“), Umgang mit Prostituierten und Dominas („Dominante Damen“), Bedrohung von Frauen im öffentlichen Nachtleben („NeonNächte“) , Schönheitschirugie („Scharfe Stiche“) und schließlich Alter und Krankheit („Perfekte Pläne“).

 

Ein weiteres Merkmal aller Romane fällt ins Auge: Sie wollen informieren über das, was man üblicherweise nicht weiß oder kaum für möglich hält. Deitmer liebte die Recherche und nahm sie bei ihrer Arbeit sehr ernst. Für „Kalte Küsse“ und „Dominante Damen“ arbeitete sie mit der „Dortmunder Mitternachtsmission“ eng zusammen. Sie stand in Kontakt zu einer Prostituierten, die ein Domina-Studio betrieb, der sie einen Tag bei ihrer Arbeit zusehen durfte. Für „NeonNächte“ fuhr sie mit einer Busfahrerin durch die Nacht und ließ sich die Tunnel der U-Bahn genauer zeigen. Für „Scharfe Stiche“ war sie Gast bei einer achtstündigen OP, bei der das Gesicht einer Frau komplett geliftet wurde.

 

Dementsprechend sind die Romane gesättigt mit Informationen. In „Dominante Damen“ erfährt man in einem Gespräch der Ermittlerin in der Beratungsstelle für Prostituierte nicht nur Erstaunliches über sexuelle Praktiken und Lustgewinn von Männern, sondern auch, dass jede Frau, die „anschaffen geht“, sofort aus der gesetzlichen Krankenkasse geworfen wird (siehe Textteil vorn).

Für „Dominante Damen“ erhielt Sabine Deitmer den deutschen Krimipreis 1995.

 

Schon ein Jahr später erschien zum Thema „Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum“ der Folgeroman „NeonNächte“. Abweichend von allen anderen Geschichten und Romanen sterben in ihm drei Frauen. Im Textausschnitt dieses Lesebuchs begegnen wir der Ermittlerin zunächst bei Einkäufen mit Beckmann, ihrem Partner (s.o.). Als Beate Stein jedoch zu einem Mord gerufen wird, hinterlässt sie dem Freund, - in der Zeit gab es ja noch keine Handies -, auf originelle Art eine Botschaft. Die Szene zeigt, mit wie viel Ironie die Autorin zu arbeiten vermochte. Das folgende Kapitel in Kursivschrift führt die Leser auf die zweite Erzählebene und die (falsche) Spur eines Obdachlosen, der in den unterirdischen Tunneln sein Zuhause gefunden hat. Die Anschlussszene zeigt die Ermittler bei einer Leiche, die auf den Gleisen aufgefunden wurde.

 

Mit „Dominante Damen“(1994) und „Neonnächte“ (1995) war Sabine Deitmer in der Öffentlichkeit zu größter Anerkennung gekommen, weil sie sich an Themen wagte, die sich kaum jemand anzufassen traute. „Kalte Küsse“ wurde 1995 für den Rundfunk bearbeitet, „Dominante Damen“ 1998.

 

In der Regie von Carl Schenkel wurde „Kalte Küsse“ 1997 für RTL verfilmt (Erstausstrahlung am 8. 5. 1997.) Die Differenzen zwischen Roman und Filmergebnis waren für Sabine Deitmer teilweise schwer erträglich. Nicht eine Ermittlerin mit streichholzkurzen Haaren trat hier vor die Kamera, sondern eine Marie Bäumer mit Strapsen. „Da hilft nur loslassen“, sagte Deitmer in Interviews später.[12]

 

2000 kam auch „NeonNächte“ zur Verfilmung („Neonnächte - Der U-Bahn-Schlitzer“, RTL-Fernsehfilm, Drehbuch: Thomas Reuter und Peter Ily Huemer, Regie: Peter Ily Huemer, Erstausstrahlung 5.1.2000)

 

Mittelweile waren Veröffentlichungen von Sabine Deitmer auch in andere Sprachen übersetzt worden: 1995 erschienen „Kalte Küsse“ und „Dominante Damen“ in Dänisch. „Addio maschio“ lautete 1999 der italienische Titel von „Bye-bye, Bruno“. Ein Jahr später konnten auch Leserinnen und Leser in Schweden „Kalte Küsse“ in ihrer Muttersprache lesen.

 

Nach den drei Erfolgsromanen, veröffentlichte Sabine Deitmer zunächst noch einmal einen Band mit Erzählungen. „Die schönsten Männer der Stadt. Balzgeschichten, Frankfurt a.M. (Fischer) 1997. Das Thema war zuvor bereits in zwei Anthologien der Gruppe „Frauen schreiben“ Gegenstand gewesen, ganz früh in „Venus wildert. Wenn Frauen lieben“ (1985) und später in „Die Nacht der schöne Frauen“ (1997). Aus beiden Textsammlungen konnte Sabine Deitmer Stories für ihr neues Buch übernehmen, das ausnahmsweise nicht ausschließlich Kriminalgeschichten enthielt.

Als Beispiel ist diesem Lesebuch das kleine Prosastück „Erstaunliche Werte“ eingefügt.

 

Vor der Jahrtausendwende kamen auf Sabine Deitmer Veränderungen zu. Sie wollte ihren Status als Beamtin nicht verlieren und kehrte nach zehn Jahren in ihre Arbeit an der Volkshochschule Dortmund zurück. Eine weitere Beurlaubung war nicht mehr möglich. Parallel schrieb sie zwei weitere Romane, die auf ihren Wunsch hin, nun als Hardcover im Krüger-Verlag erschienen, der seit 1976 Teil des Fischer-Verlags war.  

 

Das Arbeitstempo, das Sabine Deitmer zuvor vorgelegt hatte, war nicht mehr zu halten. Erst neun Jahre nach ihrem letzten Roman erschien 2004 „Scharfe Schnitte“, ein Buch, in dem sie sich mit dem Thema Schönheitschirurgie befasste. Im Lesebuchteil ist eine Szene eingefügt, die Hintergründe und skandalöse Informationen zu dieser Branche enthält (siehe vorn). Für diesen Roman erhielt Sabine Deitmer 2005 den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden „Agathe“.

 

In ihrem letzten Roman „Perfekte Pläne“ (2007) wandte sie sich dem Thema Alter und Krankheit zu. Ein Mann, dessen Frau bereits verstorben ist, erleidet einen Schlaganfall. Als sich seine Kinder nicht um ihn kümmern, kämpft er sich trotzdem ins Leben zurück: Einerseits helfen ihm Briefe, die der einsame Mann an seine tote Frau schreibt. Darin lässt er sein Leben Revue passieren, gesteht Schwächen und Fehler ein und hofft, noch einmal neu anfangen zu können. Andererseits sucht er sich eine „Wahlfamilie“, da seine eigenen Kinder keinerlei Interesse für ihn zeigen.

Im Lesebuchteil findet sich ein Brief von Werner Krieger - so der Name des Mannes -  an seine Frau Edith mit dem Entschluss, mit 73 Jahren ein neues Leben zu beginnen.

In der anschließenden Szene, in der Ermittlerin Stein ihre blinde Freundin Anna besucht, wird die Kernbotschaft des Romans herausgearbeitet. „…alles Leben ist Verzeihen. Ohne Verzeihen funktioniert das Leben nicht.“ An seinem fehlenden Verzeihen und auch am fehlenden Verzeihen seiner Kinder geht Werner Krieger am Ende zugrunde, ja provoziert seinen eigenen Mord.

 

In „Perfekte Pläne“ tritt Beate Stein, die Ermittlerin der fünf Romane, ab. Damit beendete auch Sabine Deitmer im Wesentlichen ihr Schreiben. Es folgten nur noch wenige Kurzgeschichten, die letzte 2012. 2007, das Erscheinungsjahr des letzten Romans, ist zugleich das Jahr, in dem Sabine Deitmer sich von der Arbeit in der Volkshochschule verabschiedete und in Ruhestand ging.

 

Erschienen waren von ihr neben zehn selbständigen Büchern sehr viele Kriminalgeschichten (siehe Originalbeiträge in Anthologien), die in der Folge auch an anderen Orten veröffentlicht wurden. Sie hatte mehr als 400 Lesungen gehalten, manchmal vor Publikum, das die ironisch überzeichneten Männertypen ihrer Geschichten nicht immer amüsant fand. Sie hatte die Morde der Frauen manchmal verteidigen müssen. Sie hatte auf zugigen Bahnsteigen gestanden und das Leben als reisende Autorin als sehr beschwerlich empfunden. Jetzt war sie froh, nicht mehr auf Lesereise gehen zu müssen. 

 

Deitmer blieb aber in der Krimi-Szene gut vernetzt, besonders in den Zusammenschlüssen „Syndikat“ und „Mörderische Schwestern“ und unterstützte in den Folgejahren besonders junge Autorinnen. Der Fischer-Verlag legte ihre Werke noch einmal neu auf, so dass diese nach wie vor lieferbar sind.

2008 erhielt die Autorin in Wien den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk von der Autorengruppe „Syndikat“.

 

Ansonsten belegte sie Kurse in Bauchtanz, widmete sich dem Klavierspielen - ohne jeglichen Anspruch auf Perfektion - und malte. Sie räumte ihr Arbeitszimmer kurzerhand für eine junge Frau, die aus Kiew nach Dortmund gekommen war. Diese junge Frau wurde in den folgenden Jahren quasi Teil der Familie.

Deitmer änderte ihren Lebensstil, ging jeden Tag - der Gesundheit zuliebe - ausreichend viele Schritte, indem sie von ihrem Wohnhaus eine Runde Richtung Dortmunder Pferderennbahn und Hauptfriedhof drehte.

 

Nach einer schönen Reise an die Côte d’ Azur im Herbst 2019, eine Erinnerungtour an eine Fahrt, die Sabine Deitmer und Ulrich Moritz in jungen Jahren mit dem Fahrrad unternommen hatten, und einem glücklichen Weihnachtsfest, setzten bei Sabine Deitmer am 6. Januar 2020 völlig unerwartet Hirnblutungen ein. Sie starb am 11. Januar. Ihren Angehörigen hatte sie aufgetragen, ein Glas Champagner auf sie zu trinken, ein Wunsch, der ihr erfüllt wurde.

 

Die Trauerfeier fand unter großer Anteilnahme auf dem Hauptfriedhof in Dortmund - nahe ihrer alltäglichen Spazierroute - statt. Es zeigte sich, wie sehr die kommunikative Autorin mit ihrer zugewandten, hilfsbereiten und unkonventionellen Art den Menschen am Herzen gelegen hatte und noch lag. Auf der Trauerkarte war der Hinweis zu lesen: „An Stelle freundlich zugedachter Blumengrüße ist eine Spende für die Dortmunder Mitternachtsmission e. V. (…) in ihrem Sinne“. 



[1] Die Lust an der Leiche. Bekenntnisse einer Triebtäterin, in: „Daß einfach sich diktierte Zeilen legen“. Autoren schreiben über ihr Genre. Köln-Düsseldorfer Poetiklesungen, Band I, hrsg. von Liane Dirks, Dülmen (tende) 1995, S. 163-192.

Besondere Kennzeichen: Weiblich. Sabine Deitmer – Unterwegs mit Kommissarin Beate Stein. In: Kreuzverhöre. Zehn Krimiautoren sagen aus, hrsg. von Jürgen Alberts und Frank Göhre, Hildesheim (Gerstenberg) 1999.

Wurzeln schlagen, in:  Hier ziehe ich die Schuhe aus: Geschichten zum 60. Geburtstag von Nordrhein-Westfalen, hrsg. von Amir Shaheen, Weilerswist (Ralf Liebe Verlag) 2006, S. 115-126.

[2] Der Detektivroman und sein literarischer Wert - Versuch zur Neubewertung einer Gattung, in: anglistik & englischunterricht. Trivialliteratur 2, 1977.

[3] Gemeint sind Erzählelemente.

[4] S.o., S. 40-41.

[5] So heißt es in der Widmung zu NeonNächte 1995: „Das Buch widme ich Ingeborg, die Straßenbahnen Wolfgang, und den Porsche widme ich Moritz, meinem Beckmann.“

[6] Sabine Deitmer, Mitten ins Gesicht. 1978-1998: 20 Jahre „Frauen schreiben“, in: Heimat Dortmund. Stadtgeschichte in Bildern und Berichten. Literatur in Dortmund mit der Dortmunder Gruppe 61 und danach, Zeitschrift des Historischen Vereins für Dortmund, 2/2011, S. 37.

[7] So lautet der Untertitel von „Bye-bye, Bruno“.

[8] Die Lust an der Leiche, in: „Daß einfach sich diktierte Zeilen legen“. Autoren schreiben über ihr Genre. Köln-Düsseldorfer Poetikvorlesungen, hrsg. von Liane Dirks, Dülmen-Hiddingsel 1995, S. 176.

[9] Er soll circa 250 Jerry-Cotton-Hefte verfasst haben.

[10] Kreuzverhöre, hrsg, von Jürgen Alberts und Frank Göhre, Hildesheim, 1999, S. 199.

[11] Das Verfahren erschwert teilweise die Auswahl und auch das Verständnis der Textauszüge in diesem Lesebuch. 

[12] Sabine Deitmer: Da hilft nur loslassen, in: Ariadne Forum, Der Frauenkrimi-Almanach 1997/98, S. 144ff.