08.02.2020
Hamburg
fixpoetry. Wir reden über Literatur. Kritik
Von
Was könnte einer Europäerin /einem Europäer komplexer, rätselhafter und
widersprüchlicher erscheinen als das ferne Reich der Mitte? Nicht umsonst reden
die Deutschen vom "Fachchinesisch", wenn sie eine schwer
verständliche Erklärung hören; den Spaniern und Franzosen wiederum kommt etwas,
was sie nicht verstehen, "chinesisch" vor. Viele von uns bewundern
die Jahrtausende alte chinesische Kultur und Tradition, fühlen sich aber ratlos
oder wütend angesichts der neueren chinesischen Geschichte und Politik.
Die Schriftstellerin Monika Littau
erlebte das heutige China aus erster Hand, als sie 2017 an der Ocean University
of China in Qingdao (Tsingtau) Poet in Residence war. Ihr Buch Von der Rückseite
des Mondes schildert in Form von Prosaminiaturen ihre Beobachtungen,
Erfahrungen und Erkenntnisse. Der Band erschien im BACOPA-Verlag in einer Reihe
Publikationen mit China-Bezug; auf dem Cover sieht man eine Abbildung der
aufgeschnittenen Drachenfrucht (Pitahaya), eines der mit Filtern bearbeiteten
Original-Schwarzweißfotos der Autorin, die das Buch illustrieren.
Obwohl die Erzählerin von Beginn an die bescheidene Haltung einer
"Europäerin unter fremden Bäumen" einnimmt, stellt die
Leserin/der Leser bald fest, dass Monika Littau ihre Reise nicht ohne
gewichtige geistige Ausrüstung angetreten hat. Gleich in dem ersten Satz - mit
den "fremden Bäumen" - findet sich eine Referenz zu Goethes Wahlverwandtschaften.
Notizen und Querverweise auf eine Fülle relevanter Literatur von Laotse und
Konfuzius über Richard Wilhelm bis Bertold Brecht und Mao Zedong begleiten uns
durch das Buch und zeugen von einer eindrucksvollen Recherche. Dabei gelingt es
der Autorin, ihre Wahrnehmungen und Erkenntnisse in einem leichten,
unterhaltsamen Schreibstil festzuhalten, der fast an taoistische Prosa-Texte
erinnert, um uns direkt ins Bild zu setzten.
So erleben wir, wie die Neuangekommene ihre Mobilgeräte einrichtet -
ein Huawei-Handy mit Westsystem, ein anderes mit "fernem Ostsystem"
(die Chinesen sind zwar hoch digitalisiert, nicht aber mit dem Westen
kompatibel), und schon bald empfängt sie per WeChat Bilder und Infos von ihren
Student*innen, den lächelnden jungen Menschen, die sich westliche Vornamen
zulegen und gerne das Victory-Zeichen zeigen. Kurz darauf geht die Autorin in
den Supermarkt einkaufen und trifft dort eine Kassiererin, welche die ganze
Zeit nonchalant ihr Baby stillt und dabei Kunden bedient. Auf dem Straßenmarkt
beobachtet Monika Littau die exotische Welt en miniature: Hähne und bunte
Singvögel in Käfigen, Skorpione, Drachenfrüchte, daneben Bilder von Mao Zedong.
Sie begegnet einem Mann, der mit den Kanarienvögeln im Käfig spricht.
Wenig später redet sie mit einer neuen Kollegin über die Geburtenpolitik im
heutigen China und stellt fest, dass sich manches geändert hat: Es ist jetzt
gewünscht, dass die Gebildeten, die Studierten, zwei Kinder in die Welt setzen,
weil der Staat Angst vor Vergreisung der Gesellschaft hat. "Wie sollen die
Frauen das denn noch schaffen?", wundert sich die Kollegin. - All diese
Alltagserfahrungen beweisen: China ist anders und es gibt viel Anlass zum
Staunen. Umso mehr reizt es die Autorin, sich selbst als
"Gastchinesin" neu zu erfinden. So bildet sie aus den Anfangssilben
ihres Vor- und Nachnamens ihren neuen chinesischen Namen, Mo Li, und
stellt erfreut fest, dass er "Jasmin" - oder, anders ausgesprochen,
"Zauberkraft" - bedeutet.
Das Poetisch-Spielerische, das die traditionelle chinesische Kultur
kennzeichnet und sich z.B. in der Namensgebung von Menschen, Orten und
Gegenständen äußert, spricht die Autorin sehr an. Dabei verliert sie aber nie
den kritischen Blick auf das, was das Land mit einer langen totalitaristischen
Geschichte bis heute prägt: die allgegenwärtige Überwachung mit Kameras (sogar
im eigenen Treppenhaus), die Benachteiligung der Frauen und die katastrophalen
Folgen der Ein-Kind-Politik, die Pläne der Regierung, ein Sozialpunkte-Konto
für jede/n einzurichten ("Wenn es so weit ist, dann dürfen die Menschen
mit wenig Punkten nicht mehr mit der Bahn fahren und nicht mehr fliegen, auch
nicht mehr am Arbeitsplatz befördert werden." S. 46), und vieles andere
mehr.
Interessant und vielschichtig sind auch die Erwägungen der
deutsch-chinesischen Beziehungen und gegenseitiger Beeinflussung in Quingdao,
das zwischen 1898 und 1919 als Kolonie zum Deutschen Reich gehörte. Vom Kaiser Wilhelm II ist die Rede, aber auch von Richard Wilhelm,
der die chinesische Philosophie und Kultur durch sein Werk "Die Seele Chinas" (1925) in Europa bekannt gemacht hat.
Das moderne China wird im Buch unter anderem durch die Ambition, die
Rückseite des Mondes zu erkunden, charakterisiert. Zur Zeit der Entstehung des
Buchs planten die Chinesen einen Erkundungs-Rover auf die Rückseite des Mondes
zu bringen und hatten bereits einen Übertragungssatelliten hingeschickt, der
helfen sollte, Bilder auf die Erde zu senden. Später, am 3. Januar 2019,
landete die Raumsonde, die den Namen der chinesischen Mondgöttin Chang'e trägt,
tatsächlich auf der Rückseite des Mondes.
Das Motiv der "Rückseite des Mondes" steht natürlich metaphorisch
für das Unbekannte, worüber die meisten von uns nur vage Ideen haben. Um dem
Geheimnis China ein Stückchen näherzukommen, empfiehlt es sich sehr, diese
einfühlsamen und dabei höchst unterhaltsamen, durch gute Recherchen fundierten
Prosaminiaturen von Monika Littau zu lesen.
https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/monika-littau/von-der-rueckseite-des-mondes-chinesische-miniaturen?fbclid=IwAR2vzZmjmJ2rXFFCHb4HNf7xy_UsUys2FgWqE2MJSE4IBik6wyNwWyVFWCQ
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